Das Zusammenspiel von Alt und Neu ist ein Thema mit unzähligen Variationen. In dicht besiedelten Innenstädten stellt sich stets die Frage, wie neue Gebäude zu Bestandsbauwerken in Beziehung treten. Besondere Bedeutung bekommt diese Fragestellung, wenn der Neubau ein bestehendes Gebäude erweitern soll. Ein Beispiel für ein solches Projekt ist das nach seinem Standort „36 Ferragus“ benannte Wohnhaus im französischen Aubervilliers. PietriArchitectes aus Paris zeichnen für dieses Projekt verantwortlich. Sie haben das neue Gebäude mit sichtbaren Kontrasten in einen eher heterogenen Straßenzug eingebunden. Dieser ist geprägt von Einfamilien- und Reihenhäusern aus unterschiedlichen Zeitepochen und in verschiedenen Größen.
Erneuerungsprozess mit langem Atem
Aubervilliers ist eine Stadt am nordöstlichen Rand von Paris. In aufeinanderfolgenden Phasen fanden hier zunächst Industriearbeiter und später viele Einwanderer ein Zuhause. Heute ist Aubervilliers fast mit dem Zentrum der Hauptstadt verschmolzen. Die Stadt durchläuft einen Erneuerungsprozess, der erst im Jahr 2030 abgeschlossen sein soll. Dieser Prozess umfasst diverse Abriss- und Neubaumaßnahmen im Bereich der Innenstadt sowie eine Neugestaltung des öffentlichen Raumes. Zu den Zielen der Erneuerung gehört, die Identität des alten Stadtzentrums zu erhalten und dabei jedoch ein lebenswerteres Umfeld zu schaffen.

Das Neue hebt sich ab
Im Rahmen dieser Maßnahmen haben PietriArchitectes ein bestehendes Wohnhaus saniert und erweitert. Dabei ist ein Gebäude mit insgesamt 15 Sozialwohnungen entstanden. Das Architektenteam bewahrte dafür das ursprüngliche Erscheinungsbild des alten Hauses, im Inneren wurde es jedoch vollständig erneuert. Unter anderem wurden der Keller abgesenkt und alle Böden verstärkt. So zeigt der alte Teil aus den 1920er Jahren zur Straßenfront weiterhin einen Mix aus Backstein-Flächen und verputzten Bereichen. Das neue Gebäude dagegen präsentiert sich zeitgenössischer. Hier findet sich eine Außenhülle mit dunklem ANTHRA-ZINC und auffälligen Fensterkonstruktionen. Die Fassade wirkt fast wie ein grafisches Element, das sich in Struktur und Materialität deutlich von der nebenan liegenden Backsteinfassade abhebt.

Abstandshalter
Der alte Gebäudeteil von „36 Ferragus“ wurde zusätzlich um eine weitere Ebene aufgestockt. Diese Aufstockung folgt in Konstruktion und Design dem Neubau und stärkt als gemeinsame Klammer gleichzeitig die Zusammengehörigkeit der Gebäude, während sie auch die Kontraste klar hervorhebt. Die beiden Gebäude sind über kleine Brücken auf jeder Etage miteinander verbunden. So können die Bewohnerinnen und Bewohner ein gemeinsames Treppenhaus im Altbau ebenso nutzen wie den Aufzug, der nun im Neubau hinzu gekommen ist. Durch die Zwischenräume zwischen den Übergängen eröffnet sich ein Blick in den Hof. Während der Altbau auf jeder Etage nur eine Wohneinheit bereitstellt, sind es im Erweiterungsbau jeweils zwei Wohneinheiten.

Tiefenwirkung
Das markanteste Merkmal an der Frontseite des Erweiterungsbaus sind die auffällig zurückgesetzten Fenster. Die Laibungen bestehen aus rötlich schimmernden Holzlatten und führen tief in den Gebäudekorpus hinein, wobei sie sich gleichzeitig oben und an den Seiten verjüngen. Innerhalb der dunklen ANTHRA-ZINC Fassade erzeugen die Fenster einen starken Eindruck von Tiefe. Zudem liegen die eigentlichen Fenster nicht genau in der Mitte der Fensteraussparung, sondern aus dem Zentrum heraus versetzt. Dadurch wirkt jedes Fenster wie ein kleines Gemälde, das auf einen eigenen Fluchtpunkt innerhalb der Fensterfläche zuläuft. In der Kombination ziehen der Kontrast zum dunklen Zink und das außergewöhnliche Fensterdesign die Blicke auf sich. Und obwohl das Gebäude in einer eher schmalen Straße liegt, kommt dieser Effekt gut zur Geltung. Denn während der alte Gebäudeteil direkt am Gehsteig entlang führt, haben PietriArchitectes den neuen Teil von der Straßenfront nach hinten versetzt. So fällt es leichter, einen Blick auf die erst über dem Erdgeschoss beginnenden Fensterkonstruktionen zu werfen.

Kern aus Holz
Die hölzernen Fensterlaibungen weisen auch auf die inneren Werte des neuen Gebäudes hin. Hier setzten PietriArchitectes auf eine Holzbauweise mit hohem Vorfertigungsgrad. Dies hat den Bauprozess auf kleiner Grundstücksfläche erleichtert und führte zu möglichst geringen Störungen für die Anwohnerinnen und Anwohner. Für das Tragwerk des Gebäudes wurde Brettsperrholz (CLT / Cross Laminated Timber) eingesetzt. Mehrere Schichten Massivholz werden für CLT kreuzweise verleimt und unter hohem Druck verpresst. Sie sind anschließend stabil und langlebig genug, um sowohl als Innen- und Außenwände als auch für Dach- und Deckenkonstruktionen verwendet zu werden.

Flatlock Profile bringen Ruhe ins Bild
Eine Außenhülle aus ANTHRA-ZINC bekleidet das hölzerne Tragwerk von „36 Ferragus“. Die Zink-Elemente wurden hier als Flatlock Profile eingesetzt, das Rautensystem von VMZINC kann sowohl horizontal als auch – wie in diesem Fall – vertikal installiert werden. Die Größe der Profile lässt sich flexibel auf die Gebäudeachsen abstimmen. Am Erweiterungsbau finden sich in den unteren Stockwerken etagenhohe Profile, die jeweils auf der gleichen Höhe wie die Fensteraussparungen abschließen. Die industriell hergestellten Großrauten ermöglichen eine glatte und flächenbündige Oberflächenstruktur. So erzielt der neue Fassadenbereich ein sehr klares und aufgeräumtes Erscheinungsbild. Im Gegensatz dazu steht das wechselhafte Aussehen der Frontfassade des bestehenden Gebäudes mit einem Mix aus Backsteinen, verputzten und verzierten Flächen sowie verspielten Gittern vor den Fenstern. Die Rückseiten zum Hof und die Seitenflächen sind bei beiden Gebäuden schlichter ausgeführt. Der Altbau ist komplett verputzt und die Fenster des Neubaus haben keine tiefen mit sichtbaren Holzlatten gestalteten Laibungen mehr. Lediglich die Aufstockung zeigt auch auf der Rückseite die von der Frontseite bekannten Fensterdetails.
Wechselhaftes Wesen
Für PietriArchitectes bildet das Spiel mit den Gegensätzen zwischen Alt und Neu die Seele des Projektes. Durch die sorgfältige Wahl der Materialien für den Neubau haben sie diese Gegensätze stark befeuert. Die Übergänge und die Aufstockung bilden die verbindenden Elemente und stellen sicher, dass das Ensemble als ein zusammengehöriges Wohngebäude erkennbar bleibt. So ist es PietriArchitectes gelungen, einen höchst eigenständigen Erweiterungsbau an das bestehende Umfeld anzubinden.

Guido Wollenberg
Bildrechte: Hugo Hébrard